Mein Vater hatte mir als Kind zum erstenmal diese optische Täuschung mit den Buchseiten gezeigt ... Das gehört zu meinen frühsten Erinnerungen. Ganz besonders versetzte mich dieser Papagei ins Staunen ..... er war eigentlich frei, aber durch diesen optischen Trick, saß er im Käfig. ... Zauberei! ... Oder war das Magie ... ? Vielleicht die Magie des Films: Bewegung. Den Papagei konnte ich greifen, den Käfig auch ... aber den Papagei im Käfig, den konnte ich nicht greifen, oder begreifen. Er war das Unbegreifliche! Ich wußte von Anfang an: Film zeigt eben nicht die Wirklichkeit, sondern nur wie sich jemand die Wirklichkeit vorstellt. Sehr selten konnte ich in Filmen die Wahrheit entdecken.
1.
Ich hab' mich schon ganz früh gefragt, was begeistert mich denn so bei Filmen, was ist das? Passiert das durch das Bild? Oder eher durch den Ton? Die story der Filme und die Dramaturgie kannte ich ja zum Teil in- und auswendig. Trotzdem kam dasselbe Gefühl immer wieder.
Ich hab' als Kind manchmal im Kino gesessen, und die Augen zu gemacht. Der Ton war meist viel überwältigender als das Bild.
Bild und Ton werden ja gleichzeitig aufgenommen und dann später zusammengemischt. Ton liefert aber immer viel mehr von der Umgebung als der relativ kleine Bildauschnitt. Deshalb manipuliert man meist den Ton bei der Mischung, sodaß er besser zu dem kleinen Bildausschnitt paßt.
2.
Wenn man zum Beispiel Wolken in einem Film sieht, dann weiß man nie genau, wo die Kamera gerade steht. Die Wolken können mitten in einer Stadt aufgenommen worden sein ….
Oder auf einem Markt …..
Oder aber irgendwo in den Wäldern am Amazonas.
Die Wirkung wenn Ton und Bild zusammenspielen (nennen wirs ruhig Illusion) …. Die ist jedesmal völlig anders:
Das Bild ist der Papagei und der Ton setzt das Bild in einen Käfig. ....
3.
Der Ton gibt viel mehr Raum wieder, das Bild immer nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem Raum.
Und dann kommt zu den Geräuschen und dem Bild hin und wieder die Musik.
Und da wurde es dann für mich interessant.
4.
Im Film "O Trem Caipira", der "Landzug" bin ich von einem metallisch klingenden Laut ausgegangen, den ein brasilianischer Vogel, der Araponga, macht.Dieser Klang war für Heitor Villa-Lobos der Ausgangspunkt einer Komposition. Er gab der Komposition den Rhythmus und den Grundausdruck.
Ich hab dann versucht, diesen Rhythmus auf eine kleine Geschichte zu übertragen, ohne den musikalischen Ausdruck dabei zu verändern. Hier der Anfang der Szene.
5.
Die bildliche Bewegung sollte sich der musikalischen anpassen, ihr also - so gut es eben geht - entsprechen. Und dabei sollte dieses Spiel zwischen den Geräuschen und den musikalischen Klängen stattfinden.
6.
In der musikalischen Bewegung liegt der Ausdruck. Und der ist unbestimmt. Er kann stark oder schwach sein, aber er ist nie eindeutig … im Gegensatz zu einem fotografierten Bild. - Reine und absolute Musik beschreibt auch nichts. Wenn Musik also mit einem filmischen Bild gekoppelt wird, dann steht sie irgendwie im Gegensatz dazu. Es gab Musiktheoretiker, die meinten, daß dieser Gegensatz wie ein Kampf betrachtet werden könne, in dem Bild und Musik sich, abhängig voneinander, gegenüberstehen und um ihre Unabhängigkeit und die Erhaltung ihres Ausdrucks kämpfen. Reine Musik kann aber garnicht ihren Ausdruck verlieren.
7.
Der italienische Komponist Malipiero gibt da ein sehr schönes Beispiel. Er fand heraus, daß Claudio Monteverdi sehr oft ein und dieselbe Komposition mal für profane und mal für religiöse Lieder verwendete. Dabei widersprach Monteverdi sich selbst; denn er verlangte eigentlich, daß die Musik Sklave des Wortes sein müsse. Wie kann aber dann ein und dieselbe Musik sich mit zwei verschiedenen Gedichten abfinden. - Wir sehen hier, daß der musikalische Ausdruck nicht verändert wird wenn man Musik mit Worten oder Bildern koppelt. Was sich ändert ist der Bildausdruck! Mehr darüber kann man in meinem Nachwort zu den Texten von Malipiero lesen.
Hier kann man auch wieder das Bild vom Papagei nehmen: einmal sitzt er im Käfig, einmal auf einem Ast, dann auf dem Dach eines Hauses … der Papagei bleibt immer derselbe.
8.
Demnach muß die Frage: Was fügt ein Bild der Musik hinzu? eigentlich umgekehrt gestellt werden. Was fügt die Musik dem Bild hinzu? Es ist ja immer unser Ohr, das mehr aufnimmt als unser Auge. Deshalb wollen Regisseure, die ganz auf das Bild fixiert sind, überhaupt keine Musik in ihren Filmen.
Ich bin eigentlich immer bei meinen Filmen von Musik ausgegangen, manchmal ganz unbewußt.
9.
Bei dem Film "Poemi Asolani" über Gian-Francesco Malipiero, hab ich versucht, wichtige Momente aus dem Leben dieses ital. Komponisten darzustellen, die sich in seiner Musik wiederfinden. Also ich hab erst gründlich die Partituren studiert und dann erst das Drehbuch geschrieben. Jede Einstellung, jede Bewegung der Schauspieler sollte irgendwie mit den Noten und Takten der Musikwerke Malipieros korrespondieren. Fast wie bei einem Ballett.
10.
Ähnlich wie bei Heitor Villa-Lobos waren bei Malipiero oft die Geräusche, die Klänge Ursprung und Ausgangspunkt seiner Kompositionen.
Da gibt es eine Szene im Film, wo der junge Malipiero einen Schmied aufsucht und ihm bei der Herstellung einer Sense zuschaut. Die Partitur, die dieser Szene zugrunde lag, war die der 'Ersten Symphonie'. Der Schmied kannte die Musik nicht und wir begannen, seine Arbeit am Amboß zu filmen. Nachdem wir ein paar Klappen abgedreht hatten, kontrollierte ich den aufgenommenen Rhythmus der Schläge auf dem Amboß und verglich ihn mit dem Rhythmus der vorgesehenen Musik, die ich in einer älteren Aufnahme dabeihatte. Die Rhythmen waren, wie ich erwartet hatte, sozusagen identisch.
Da eine neue Musikfassung für den Film verwendet werden sollte, spielte ich später, nach dem Filmschnitt, dem Orchester im Studio den Hammerschlag des Schmiedes vor. Das Orchester richtete sich dann nach dem Rhythmus, den der Schmied auf dem Amboß schlug.
Der Film zeigte auf diese Weise die Ursprünge der Musik Malipieros in den Geräuschen seiner Umgebung, in Asolo und Venedig.
11.
Die musikalische Bewegung und der musikalische Ausdruck, die haben immer mit der Persönlichkeit des Komponisten zu tun. So wie auch die Sprache eines Menschen, im Klang und im Ausdruck, etwas über den Charakter dieses Menschen aussagt.
Ich hatte Mitte der Achtziger mal ein Portrait des mailänder Designers Alessandro Mendini gemacht. Da konnte ich - lange nachdem wir abgedreht hatten - etwas Interessantes am Schneidetisch feststellen. Mendini hatte vor der Kamera stillschweigend eine Zeichnung hergestellt. Dann wollte ich diese Szene mit Musik unterlegen. Ich hatte eine ältere Platten-Aufnahme, wo Mendini selbst singt. Als ich dann diesen ganz persönlichen Gesang mit der Bewegung von Mendinis zeichnender Hand koppelte, lief beides sofort synchron. Es war also Mendinis Persönlichkeit, der sich sowohl beim Zeichnen als auch beim Singen darstellte. Beides mußte ja denselben Ausdruck haben. Die Filmszene.
12.
Eigentlich fing es damals an mit 8 mm Filmen. Da hatte ich eben nur das Bild und keinen Ton dazu. Ich drehte also stumme Bilder und legte dann später eine Musik dazu, die mir gefiel und irgendwie zu den Bildern passte oder die den Ausdruck dieser Bilder unterstrich oder verstärkte.
Meist ergab es sich ja, daß die Bilder genauso waren, wie die Musik, die wir damals hörten. Das war irgendwie ein und dasselbe. - Die Bilder zeigten sozusagen die Wirkung, die die Musik Ende der Sechziger Jahre auf uns hatte. Das war die Bewegung: wir wollten tanzen, uns nach der Musik bewegen! Das war ganz wichtig. Szene aus dem Film "Dance".
13.
Es gab dann aber auch Filme, die kriegten eine ganz andere Musik unterlegt. Das war ein bißchen das Gegenteil von dieser Rockmusik, das waren Lieder von alten verschrammten Schallplatten. Also etwas nostalgisch, was mit meiner Begeisterung für die ganz frühen Tonfilme und die Stummfilme zu tun hatte.
14.
Da sind also ziemlich viel expressionistische Elemente in einigen Filmen, die in anderen aber wieder fehlten. Und zwar wankte ich immer so zwischen zwei Extremen: dem alten Stummfilm, der hauptsächlich vom Bild her wirkte, und dem neuen ganz schnellen Underground-Film, der sehr mit der Musik im Einklang war, Videoclip würde man heute sagen.
15.
Das eine Extrem war also das ruhige, gestaltete expressionistische Bild, das andere die völlig entfesselte Kamera, oder die fixe Kamera auf Einzelbildschaltung, vor der dann total entfesselte Leute agierten.
Die Undergroundfilme wollten damals auch alle politisch verstanden werden, natürlich. Mich aber politisch engagieren durch sogenannte linke Agitationsfilme, die ich alle furchtbar langweilig fand, das lag mir damals überhaupt nicht.
Ich fand diesen Widerspruch viel wichtiger, von dem, was man ja eigentlich ganz privat im Kopf hatte als junger Mensch und von dem, was man im Kopf haben sollte, als gesellschaftliches Wesen, negativ ausgedrückt: als Massenmensch .... Ich wußte, daß man ja nicht einfach das eine durch das andere ersetzen konnte .... um vielleicht ein besserer Mensch oder sowas zu werden?
16.
Dann jobte ich und besorgte mir eine 16mm-Kamera und machte dann in schwarzweiß weiter. Farbfilme waren ja damals viel zu teuer. Zuerst gab es eine Auseinandersetzung mit mir selbst.
In diesem Film war dann das Thema der Film selbst. Ein junger Mann filmt sich selbst in verschiedenen Situationen. Es ging mir dabei um die subjektive und die objektive Kamera. Darüber wurde damals viel geredet. Immer wenn die Kamera subjektiv wurde, dann unterlegte ich dem Bild Musik und war sie objektiv, dann hörte man nur das Geräusch der laufenden Kamera selbst. Filmausschnitt.
17.
Ich fand, daß es überhaupt keine objektive Kamera gibt in dem Sinne. Sondern jede Kamera ist eigentlich subjektiv. Und das ist ganz wichtig bei Dokumentarfilmen, die ja oft vorgeben objektiv zu sein. Ich finde, daß es garkeine objektiven Dokumentarfilme gibt. Denn jeder Dokumentarfilm wird am Schneidetisch fast genauso inszeniert wie ein Spielfilm.
Ich hab dann später mal versucht einen Schritt weiter zu gehen und schon beim Drehen einen "Dokumentarfilm" zu inszenieren. Der ging über die Verfassung der Wiedertäufer von Münster, der ersten Kommunisten vor 500 Jahren, und über die sogenannten Verfassungsfeinde der 70er Jahre, die Berufsverbot kriegten, nur weil sie Mitglieder oder Symphatisanten der legalen kommunistischen Partei in Westdeutschland waren.
18.
Ich find es ehrlicher einen Dokumentarfilm zu inszenieren, also mit den Leuten, die vor der Kamera erscheinen sollen, intensiv zusammen zu arbeiten. Daß sie das sagen, nur das sagen, was sie wirklich selbst sagen wollen.
Dokumentarfilmer, die den Anspruch erheben, objektiv über etwas zu berichten, die waren mir immer schon suspekt.
Ich glaub einfach nicht, was die mir erzählen.
Ich glaub auch nicht was da im Fernsehen angeblich objektiv aus irgendwelchen Krisengebieten berichtet wird. Da fummeln sich Journalisten manchmal ganz peinlich irgendwelche Bilder zusammen und kommentieren die dann. Dieser Bilderzwang im Fernsehen, genau der führt uns weg von der Wahrheit anstatt zu ihr hin! Man sieht zwar eine Realität, die meist ziemlich brutal ist. Die hat aber nichts mit der Wahrheit zu tun.
19.
Die Filme Anfang der 70er Jahre waren aber eigentlich noch Stummfilme, denen ich gezielt Musik unterlegt habe. Manchmal auch Gesang. Der Gesang sollte dann aber asynchron sein.
Also kein synchroner Ton. Ton und Bild sollten eigentlich auseinanderlaufen. Man sollte merken, daß das immer zwei verschiedene Dinge sind. Ein Papagei und ein Käfig! Keine Illusion! Filmszene aus "Eine weisse Wand".
20.
In dem Film "Il Parco", (der Park) hab ich versucht auch Sprache selbst als "musikalisches" Mittel einzusetzen. Also da gibt es einen Typen, der schreit in ein Megaphon, aber man versteht garnicht, was er da hineinschreit. Also wichtig ist garnicht, was da gesagt wird, sondern man soll nur verstehen, wie diese verzerrte Information einen Gefühlszustand hervorruft. … durch Akustik. Filmausschnitt.
21.
So wie die verzerrte Stimme hab' ich dann auch Geräusche wie ein musikalisches Mittel eingesetzt. In einem Fall sollten die Geräusche von Grillen eine Liebesszene "heißer" machen.
22.
Im Film "Meine Wunder" hab ich dann zu den Geräuschen und zur Musik Gedichte gekoppelt, also da waren jetzt poetische Worte, gesprochene Worte, die mit den anderen Klängen zusammenspielten.
Die Gedichte von Else Lasker-Schüler waren gut dazu geeignet; denn sie spielt selbst mit ihren Worten - ihre Worte sind immer Bilder - und der Hintergrund war sehr passend der Luna Park, ein Vergnügungspark in Rom. Filmausschnitt .
23.
Etwas später wollte ich das Hörbare sichtbar machen, also das gesprochene Wort, das ja eigentlich von Else Lasker-Schüler aufgeschrieben worden ist, sollte lesbar werden. Ich hab dann noch einen Film über die Dichterin gedreht, wo Schriftzeichen mit dem Bild gekoppelt werden. Filmausschnitt.
Der Film hieß "Ich räume auf". Die Dichterin Else Lasker-Schüler, von Gisela Stein gespielt, klagt ihre Verleger an, von denen sie sich ausgebeutet fühlt.
Ein Spiel zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache. Das hat auch etwas mit dem Stummfilm zu tun und zwar mit den früher üblichen Zwischentiteln, die ja jeder lesen mußte, um der Handlung zu folgen
24.
Um Schrift geht es dann auch in dem Film "Strada Pia". Da bin ich von einer Idee Victor Hugos ausgegangen. Der meinte, daß mit der Erfindung der Buchdruckerkunst also der Druckschrift, ein Abfall in der Architektur eingesetzt hat. Der Mensch hatte plötzlich - im Gegensatz zur Handschrift - ein sehr einfaches Mittel seine Ideen, sein Denken der Nachwelt zu überliefern. Er brauchte sie nicht mehr - wie er es jahrtausendelang getan hatte - mühsam 'in Stein zu schreiben'. Die Druckschrift tötet sozusagen das Bauwerk. -
Der Film sollte praktisch einen Weg beschreiben ..... von der Teokratie zur Demokratie, also von der Herrschaft eines Gottes und seiner Priester zur Herrschaft des Volkes....
25.
Beispielhaft für diesen Weg war eine Straße in Rom: die ehemalige Strada Pia, die von den herrlichen Palästen im Zentrum hinaus in die unwohnlichen Vorstädte führt. Mit dem Abfall in der Architektur und dem gleichzeitigen Aufstieg des modernen Denkens hängt nämlich auch die Dekadenz unserer Städte zusammen.
Musik wurde in diesem Film zum Mittel die Widersprüche unserer modernen gesellschaftlichen Denkweise darzustellen aber auch ein Mittel zur Orientierung. 400 Jahre Architektur, 400 Jahre Literatur von Tasso bis Pasolini ... das war nicht leicht einander gegenüberzustellen ....
26.
Es ist ja das Schöne an der Musik, daß man mit ihr spielen kann, sich nach ihr bewegen kann. Das stille Sitzen im Konzertsaal fand ich immer unbefriedigend. Es fehlte mir die Bewegung. Dieser still-geistige Respekt vor Ernster Musik - das schreckt junge Leute ab. Da erlebt man nicht genug. Und damit riskieren wir den größten Schatz, den wir als Abendländer haben: unsere wunderbare Musik zu verlieren.
27.
Ich hab oft versucht, zu zeigen, daß in der Musik etwas liegt, das uns aktiv werden läßt, so etwas Körperliches: Bewegung. Ein bewegtes Bild führt dazu und regt dazu an, Musik nicht nur geistig-seelisch zu hören, sondern auch körperlich zu erfahren.... also alles zu erleben, was in der Musik steckt.
Natürlich stehen selten im Kino oder vor dem Fernseher Leute auf und tanzen plötzlich. Aber wenn junge Leute sehen, daß eine eigentlich Ernste Musik voller bewegter Bilder steckt, dann hören sie sozusagen "mit anderen Augen".
28.
In dem Film "Poemi Asolani" gibt es zwei Szenen die von Malipieros Stück "Rispetti e Strambotti" begleitet werden. ....In der einen Szene sieht man ihn als jungen Mann, wie er mit dem Zug aufs Land flieht, nach Asolo, weil es ihm in Venedig zu laut ist.
In der anderen sieht man lärmende Kinder, die ihn als älteren Mann in dem Haus in Asolo bei der Arbeit stören. Filmszene.
Die Streicher werden im Film absichtlich mit dem "störenden Lärm" gekoppelt, weil ein solcher Lärm ja der Ursprung des Musikstücks war ....
29.
Wenn dieser Käfig hier ein Klang wäre und dieser Papagei auch einer, dann ist Film immer ein Zusammenklang, der durch Bewegung entsteht.
Ein rationales, greifbares Element wie der Ton wird mit einem zweiten rationalen, greifbaren Element, dem Bild, gekoppelt und es entsteht Magie, also etwas Ungreifbares, etwas Paradoxes, Widersprüchliches.
Ohne das Paradox kommt ein Film nicht aus, weil er doch etwas erzählen will, was wir sonst nicht erleben würden. Jeder Film will uns ja an einen anderen Ort in eine andere Zeit entführen.
Alles was ohne Widerspruch ist, kann man eigentlich nicht gebrauchen, um das Unbegreifliche darzustellen.
30.
In dem Film "Deruta" machen sich vier Töpfer und ein sensitives Mädchen auf die Suche nach dem Stein der Weisen. Das ist natürlich ein Märchen. Aber deshalb ist es besonders wahr. Es wird zu einer Reise in unsere Psyche. Das Unbegreifliche wird begreifbar. Filmszene.
31.
Die vier Abenteurer finden schließlich den Stein unter einem Lehmberg ..... und gelangen in den Stein hinein.
32.
Sie haben mit dem "Stein der Weisen" praktisch das Geheimnis ihrer eigenen Seele entdeckt. Die Quelle ihrer größten, ihrer wichtigsten Kräfte.
Zu dieser Quelle muß natürlich jeder selbst seinen Weg finden. Der Film zeigt nur, daß dieser Weg nie über das Rationale, über Logik gehen kann sondern nur über das Paradox. ...
33.
Man sagt ja, daß die Ratio, also unser bewußtes Denken, nur die Spitze des Eisbergs sei. Die ist großartig, ganz wichtig. Diese Spitze kann man sehen. Sie erlaubt uns zu handeln. Aber darunter gibt es die gewaltige Masse, der Rest, der auch denkt und der uns ständig etwas vermittelt. Den Rest kann man nicht einfach als das Irrationale, als das Unvernünftige abtun, wie es die Aufklärung mehr oder weniger wollte. Wir wissen heute, daß der ganze Eisberg "vernünfig" denkt. Nur die Spitze zu sehen, das ist eine gefährliche Vereinfachung. Da müssen wir heute unbedingt drüber hinaus.
Im Film heißt es:
"Lieber Pastor, ich weiß,
es ist nutzlos vom Licht zu predigen,
wenn es doch niemand sehen kann.
Wir müssen anfangen,
die Kunst des Sehens zu lehren!"
34.
Die Kunst des Sehens und vor allen Dingen, die Kunst des Hörens.
Mich hat immer das interessiert, was wenig beachtet wird.
Das, was neben oder unter den augenfälligen Dingen liegt.
Dazu gehört ja auch der Eisberg von dem wir eben sprachen.
Wir müssen uns um den Rest kümmern ... in einer Gesellschaft wo man schnell bereit ist - was man nicht braucht - einfach wegzuwerfen. Müll!
Aber wo bleibt das dann? Wo bleibt dieser Rest?
35.
Bisher sehr wenig beachtet worden ist die brasilianische Barockmusik, die zum größten Teil vor 200 Jahren von freigelassenen Sklaven, von Mulatten komponiert wurde. Hauptsächlich liturgische Musik, in deren Ausdruck man die Wut und die unterdrückte Seele der afrobrasilianischen Sklaven heraushören kann, und wie die sich in der Musik geradezu befreit.
36.
Selbst ein "Kyrie" - dieses christliche Mantra - hat in sich die Kraft und Spannung, die im Film in einer einer Verfolgungsszene mündet. ... (die Kraft liturgischer Musik!) Ein Widerspruch, ein Paradox, das uns ein hörbares "Bild" vom seelischen Zustand der brasilianischen Sklaven gibt. Auch wenn es hier in dieser Film- Szene um die Verfolgung eines weißen Staatsfeindes geht, der nicht "gebraucht" wird, weil er die Unabhängigkeit Brasiliens gerade auch zum Schutz der Schwarzen fordert.
37.
Die Sklaverei ist abgeschafft und der Brasilianer ist - wie wir alle heute - Sklave des eigenen sogenannten Wohlstands, des Verkehrs, des Lärms, der Umweltverschmutzung. Ich fand, daß im Ausdruck der brasilianischen Gitarre von Heitor Villa-Lobos, dieser Zustand wiederklingt .
Der brasilianische Musiker, der aus Geräuschen Töne isoliert, sie zu Rhythmen und Melodien weiterbildet, gibt nichts anderes, als jene Schwingungen wieder, die von seiner Seele ausgehen, der brasilianischen Seele.
38.
Befreiung aus diesem Dilemma kann es im Film nur durch die Magie geben, von der ein Film selbst ja lebt.
39.
"Ein Sonnenstrahl". Die ital. neorealistischen Filme sind voll von dieser Magie, auch wenn es im ersten Augenblick so aussieht, als begnügten sie sich mit der Darstellung der meist brutalen Realität.
Die Schlußszene zu "Rom offene Stadt" sollte man sich zweimal anschauen: einmal ohne Musik und einmal mit Musik ....
Für die Brüder Renzo und Roberto Rossellini war der Realismus so etwas wie eine Form der Wahrheit. Der Ausdruck in Rossellinis Filmen lebt von der Wiederherstellung der Wahrheit ... nach Jahren der Diktatur und der Unterdrückung des Individuums. Es ging darum, den Menschen zu zeigen wie er ist, mit all seinen Schwächen und seinen Gefühlen. Dazu war Musik natürlich unentbehrlich.
Renzo Rossellini schrieb diese Musik zu den Filmen seines Bruders Roberto.
40.
Ohne diese Musik wären die neorealistischen Filme nur halb so realistisch ....
41.
Renzo Rossellini zog es vor, das Meer zu hören anstatt es zu sehen.
Dazu die Wärme eines Sonnenstrahls .... das änderte später vollkommen die Bedeutung seines Lebens.
42.
Der Film über die Rossellini Brüder sollte den Weg zeigen, den beide gegangen sind ... hin zur Einfachheit. Das hieß für Renzos Film-Musik dann: Gebrauch von wenig Instrumenten, anstatt großem Orchester ... von einfachen Melodien ...
43.
In dem Film "Roter Mond über Neapel" hab ich etwas später zeigen wollen, was in einem Instrument stecken kann. Da sind all diese Zwischentöne, die, wenn man genau hinhört eine unglaubliche Bandbreite an Klängen wiedergeben. Vielleicht sind es diese Oberton-Klänge, die uns durch das Ohr, den Blick nach Innen freimachen. …. Den Blick, den ja alle ernsthaften Filmemacher zeigen wollen.
"Das Auge führt mich hinaus in die Welt, das Ohr bringt die Welt in mich hinein!" sagt der junge Schwarze in dem Film "Trommler und Götter". Der Film zeigt, wie bedeutend die Trommel, wie wichtig also Rhythmus für die Brasilianer ist. Sie lassen ihren Körper klingen. Sie werden selbst zum Instrument.
Die Antiken hatten zu diesen geheimnisvollen Klängen eine faszinierende Beziehung. Sie kannten die Energie, die von ihnen freigegeben wird und heilten sogar Krankheiten damit.
44.
Ich glaube, Filme können besonders mit Hilfe der Musik und mit Hilfe der Klänge das zeigen, was normalerweise unsichtbar ist. Denn so paradox es klingt: der Film wollte von Anfang an … schon seit Melies …. immer eigentlich das zeigen, was nicht sichtbar ist: Magie. Film wollte schon immer das Auge sein, das den Blick nach Innen freigibt
ITALIEN, 30', DV Cam, Farbe
Produktion: Brintrup Filmproduktion
DARSTELLER | keine Darsteller |
MUSIK | Filmmusik aus Filmen von Georg Brintrup |
KAMERA / TON | Jorge Alvis, Georg Brintrup |
BUCH / REGIE / SCHNITT | Georg Brintrup |
PRODUKTION | Eigenproduktion |